Die Springerin

Kinetische Skulptur vor dem Familienbad
der Stadt Fellbach, 2013

Material: Stoff, Epoxidharz, Glasfaser, Stahl, Lack,
Kinetische Konstruktion mit Motoren, Steuerung, Scheinwerfer.
Schuhe: ca 40 cm lang, Eisenguß.
Skulptur aus Cortenstahl. Programmierung mit eingebauten
Pausen bis zu 9 Minuten.
Höhe insgesamt 7 m. Lauflänge 3 Meter.







Einführende Worte zur Einweihung am 5.09.2013 von Dr. Heribert Sautter:


Meine Damen und Herren,

wir haben von der Freien Kunstschule Baden-Württemberg einen Werbefilm für die Triennale drehen lassen, der als Vorspann in diversen Kinos läuft.Dieser Film verwandelt durch einen technischen Trick gewöhnliche, in Fellbach gedrehte Filmsequenzen so, dass die Bilder aussehen, als handle es sich bei der Stadt um eine große Modelleisenbahnanlage die man von oben betrachtet. Unter anderem wird der Eindruck dadurch erzeugt dass sich das Leben in diesem Mikrofellbach wesentlich schneller, wie in einem Zeitraffer abspielt. Besonders Eindrücklich sind die Szenen, in denen der Autoverkehr zu sehen ist. Durch die Zeitraffung wird die Taktung des Verkehrs durch Ampeln deutlich sichtbar. Es entsteht auf den Straßen ein Bewegungsrhythmus, der an die Adern des Menschlichen Körpers erinnert, in denen durch den Herzschlag stoßweise das Blut zirkuliert. Manche Orte innerhalb der Stadt offenbaren diese Taktung in besonderer Weise. Der Platz, auf dem wir hier stehen gehört dazu.

An diesem Kreuzungspunkt werden Menschenströme in einem streng wiederkehrenden Rhythmus gelenkt, verteilt, organisiert. Der Platz ist durch Bewegung charakterisiert. Wir sehen eine große Ampelkreuzung mit Stadtbahn, gegenüber die alte Silcherschule, das architektonisch anspruchsvolle Jugendhaus, unweit ein großes Hotel, ein Park, ein Kaffee, Sportanlagen, nun das Bad. Alles Orte, die diese Taktung des Lebens en gros und en detail verkörpern: Die kurzen Intervalle der Ampeln und des Stadtbahnverkehrs, die Lebensalter Kindheit und Jugend sind in Gestalt von Schule und Jugendhaus präsent, Bad und Sportanlagen stehen für Freizeit, der Park bildet die Jahreszeiten ab. Darüber, im Dachreiter der Silcherschule eine große Uhr, die das ganze Geschehen in Stunden und Minuten unterteilt und mit Ihren akustischen Signalen Pausen und Unterrichtsbeginn markiert. Es ist hier mit dem Bau des Bades eine ganz erstaunliche Platzsituation entstanden, die gerade an dieser neuralgischen Stelle eine hohe Aufenthaltsqualität bietet. Es muss ja nicht immer die stille Waldlichtung sein. Der hohe architektonische und städtebauliche Anspruch dieses Ortes sollte durch ein Kunstwerk akzentuiert werden.

Mit Anja Luitle wurde eine renommierte Künstlerin gefunden, deren Arbeit diese Bedingungen perfekt erfüllt. 1968 geboren studierte sie an der Stuttgarter Kunstakademie und ist seither freischaffend tätig. Anja Luitle animiert Kleiderhüllen und Accessoires, die ohne sichtbare Trägerinnen ein Eigenleben zu führenscheinen. Diverse Arbeiten im öffentlichen Raum, deren bekannteste wohl die Gratwanderin auf dem Haus der Geschichte in Stuttgart ist, haben Anja Luithle für diese schwierige Aufgabe in Fellbach empfohlen. Die Künstlerin entwarf diesen abstrahierten Sprungturm. Darauf bewegt sich ein rotes Abendkleid mit auf dem Rücken verborgener Schwimmflosse in unregelmäßigen Abständen von 5 bis 15 Minuten zur Absprungkante und nach kurzem Zögern wieder zurück. Am Fuße des Sprungturmes, wie eben abgestreift, liegt ein Paar überdimensionierter Damenschuhe. Ein bemerkenswertes Bild. Selbst aus dem Auto oder aus der Stadtbahn heraus erkennt man die bedrohliche Situation der Gestalt auf dem dünnen Brett, das Moment der Gefahr das einen unwillkürlich alarmiert, zumal sich die Figur in unregelmäßigen Abständen bewegt und man nicht weiß wie die Sache ausgeht. Vielleicht fällt sie ja. Der zweite Blick erschließt, dass bei der Figur doch wichtiges zu fehlen scheint, nämlich keine geringere als die Trägerin selbst. Zwangsläufig beginnt man nach Erklärungen für dieses Mysterium zu suchen und die Phantasie beginnt zu arbeiten.

Der Besucher des Bades wird das Kunstwerk zunächst unweigerlich auf das eigene unmittelbare Vorhaben, nämlich Baden zu gehen, gegebenenfalls vom Sprungturm zu springen, beziehen. Tatsächlich kennt fast jeder von uns das eigenartige Gefühl, auf einem derartigen Brett zu stehen.Vielleicht wird er sich bei dem Anblick an den eigenen ersten Sprung ins Wasser erinnern. An das ängstliche Zurückweichen, den erneuten Versuch. Diese natürliche Urangst vor der Tiefe ist jedem gegenwärtig, die Überwindung ein Triumph den man nie vergisst. Das permanente Vor und Zurück der Figur deutet diesen inneren Kampf an und wird zur Projektionsfläche der eigenen Erfahrung. Das anliegende blutrote Abendkleid betont Hüfte, Taille und Büste der Trägerin, das es in dieser Hinsicht dem Badeanzug vergleichbar macht. Ein Sprungturm ist auch Catwalk. Frau ist sich bewusst, dass sie beobachtet wird, dass Beobachter abschätzend ein Schauspiel erwarten. Der Sprungturm ist Ort der Selbstdarstellung, des Rollenspiels, aber gegebenenfalls auch der Scham im Bewusstsein des Scheiterns unter der allgemeinen Aufmerksamkeit. Bei der Betrachtung könnte man auch an den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser denken, als Synonym für das Wagnis, sich auf Unbekanntes einzulassen. Vielleicht ist ja die Trägerin, nachdem sie schon die Schuhe ausgezogen hat, längst „aus der Haut gefahren“ und gesprungen, während das Abendkleid, als Symbol der gesellschaftlichen Beharrungskräfte, die Absprungkante trotz guten Willens und Schwimmflosse nicht überschreiten kann.
Wie im einem phantastischen Theater spielt sich vor unseren Augen ein immer wiederkehrendes Schauspiel ab, das sichtbar nur aus einem Kostüm, einer Hülle besteht, die sich in gefährlicher Höhe bewegt. Wäre es nur ein leeres Kleid, würde es in sich zusammenfallen und als Stoffknäuel keine Idee der Trägerin entstehen lassen. Doch das Kostüm bildet den Leib der potentiellen Trägerin als Negativform ab. Wir sehen eine antropomorphische, bewegte Gestalt, mehr als nur Kostüm und weniger als Kostümfigur. Wir sehen einen Automaten, dessen Bewegungen unweigerlich den Verdacht auf ein Eigenleben aufkommen lassen. Die Trägerin ist durch ihre Form anwesend, als Materie abwesend. Der Betrachter wird unweigerlich selbst zum Akteur in dieser Inszenierung, indem er in seiner Phantasie den Raum ausfüllt, den das Kostüm formt. Die Bewegungen sind definiert, die Schlüsse freilich, die er zieht, bleiben ihm überlassen. Eine wichtige Qualität des Kunstwerks ist der Umstand, dass sich die Figur zwar inhaltlich durchaus auch auf das Bad bezieht, dennoch aber Interpretationen erlaubt, die weit darüber hinausweisen. Diese Geschichten können, je nach Vermögen des Betrachters, sehr naheliegend und von kindlicher Einfachheit sein, das Kunstwerk bietet aber ebenso Raum für sehr komplexe Fragestellungen.

An diesem Standort, an dem sich ständig irgendjemand zielstrebig, oft regelmäßig und getrieben von tausend Sachzwängen und Sinnzusammenhängen bewegt und in den Arbeitsalltag eintaktet, konterkariert die rastlose Springerin durch ihre antizyklischen, letzten Endes fruchtlosen Bewegungen, die zwanghafte Regelmäßigkeit unseres organisierten Lebens. Sie ist ein memento, eine permanent gestellte Frage nach der Sinnhaftigkeit oder Vergeblichkeit allen Bemühens.

In der Tat eine der wichtigsten Fragen unseres Lebens, mit der ich denn auch meine Ausführungen mit großem Respekt vor Ihrer Beharrungskraft in großer Hitze, beenden möchte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!